Das Projekt Business Process Mining zur Analyse und Präskription industrieller Kernprozesse (BPM-I4.0) hat zum Ziel, die Fähigkeit vorrausschauend industrielle Geschäftsprozesse zu optimieren substanziell zu verbessern. Innerhalb des Projektes wird der SICP – Software Innovation Campus Paderborn gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut für Entwurfstechnik Mechatronik IEM neue Verfahren des Process Mining zur Analyse und präskriptiven Steuerung industrieller Kernprozesse entwickeln, implementieren und anhand von realen Fallstudien der beteiligten Praxispartner GEA Westfalia Separator Group GmbH, Weidmüller Interface GmbH & Co. KG und CONTACT Software GmbH evaluieren.
Process Mining ist eine Technologie, die es ermöglicht eine datenbasierte Analyse von Geschäftsprozessen umzusetzen. Anhand dieser Technologie wird es Organisationen ermöglicht zu verstehen, wie ihre Geschäftsprozesse durchgeführt werden und infolgedessen Verbesserungspotenziale zu identifizieren und diese umzusetzen. Das übergeordnete Ziel von Process Mining ist es, Organisationen bei der Verbesserung der Effektivität und Effizienz ihrer Geschäftsprozesse zu unterstützen.
Process Mining verfügt über ein großes Potenzial, welches von vielen Organisationen erkannt wird. Dennoch bestehen für die praktische Anwendung in der Regel große Herausforderungen. Warum das so ist und welchen Herausforderungen sich die Unternehmen in der Praxis explizit stellen müssen, beantworten Dr. Martin Dräxler, Head of Cross Divisional Processes & Tools bei der Weidmüller Interface GmbH & Co. KG, Andreas Westermann, Head of Business Process Optimization bei der GEA Westfalia Separator Group GmbH und Rolf Stübbe, Strategie- und Management Consultant bei der CONTACT Software GmbH.
Herr Dräxler, Weidmüller ist ein Praxispartner innerhalb des Projektes BPM-I4.0. Erläutern Sie bitte, wieso ist Process Mining für Ihr Unternehmen interessant?
Martin Dräxler: In den letzten Jahren wurde Process Mining zu einem aufstrebenden Thema, welches natürlich auch unser Interesse geweckt hat. Inzwischen bieten sogar große Firmen fertige Process Mining-Software zum Kauf an. Wir wollen uns jedoch nicht mit Standard-Geschäftsprozessen beschäftigen, sondern mit wissensintensiven Prozessen wie dem Produktentstehungs- und Produktänderungsprozess. Hier existieren nicht immer fest vorgegebene Abläufe, was den Einsatz von Process Mining noch spannender macht. Das Projekt BPM-I4.0 gibt uns so die Möglichkeit, herauszufinden, ob die Techniken des Process Mining auf eben solche Prozesse anwendbar sind.
Was das Thema Produktentstehungs- und Produktänderungsprozess angeht sind wir bereits mit klar definierten Prozessen gut aufgestellt. Durch den Einsatz des Product Lifecycle Management (PLM) Systems haben wir die Prozesse bereits gut modellieren können. Nichtsdestotrotz ist es für uns wichtig zu wissen, wie die Prozesse wirklich gelebt werden und wie diese zu unseren verschiedenen Geschäftsbereichen passen. Es wird spannend sein, zu sehen, wie Process Mining unsere Prozesse messbar macht und aufzeigt, wie effizient ebendiese wirklich sind.
Einige wertschöpfende Aspekte von Process Mining haben Sie soeben beschrieben, doch welchen Nutzen wollen Sie konkret in Ihrem Unternehmen realisieren?
Martin Dräxler: Wir wollen nicht nur einen statischen Blick in die Vergangenheit bekommen, um Schlüsse daraus ziehen zu können. Process Mining soll zu einem kontinuierlichen Thema gemacht werden, um damit als Lösung Prozesse laufend analysieren zu können. Es sollen Werkzeuge für Prozessbeteiligte, wie Projektleiter und Projektverantwortliche, zur Verfügung gestellt werden, damit wir unsere Prozessdurchläufe nicht nur deskriptiv, sondern auch prädiktiv und präskriptiv betrachten können. Ziel ist es, diese Werkzeuge in unser PLM-System zu integrieren und so gegebenenfalls Handlungsempfehlungen geben zu können. Es würde uns einen großen Nutzen bringen, wenn frühzeitig Abweichungen und Gefährdungen erkannt und behoben werden können, sodass der Prozessablauf schnell wieder auf die richtige Bahn gerät. Somit liegt der Nutzen für die Prozessbeteiligten und auch das Unternehmen im Gewinn der Prozesstransparenz, welche das Erkennen der Schwachstellen im Prozess ermöglicht.
Geschäftsprozesse zu analysieren und deren Effektivität und Effizienz zu verbessern, ist für jede Organisation von Interesse. Dennoch rückt Process Mining erst langsam in den Fokus von Unternehmen. Herr Westermann, welche Hürden müssen überwunden werden, um Process Mining sinnvoll einzusetzen?
Andreas Westermann: Es existiert eine Vielzahl von Hürden, die ein Unternehmen überwinden muss, um Process Mining effektiv und effizient einsetzen zu können. Dies ist gerade dann der Fall, wenn ein Unternehmen zum ersten Mal mit dem Thema Process Mining in Berührung kommt. Insbesondere in großen Unternehmen, wie bei der GEA, ist die Kommunikation in Richtung Management, Betriebsrat und auch in Richtung der Mitarbeitenden des Unternehmens essenziell. Die Herausforderung besteht darin, eine eindeutige Erwartungshaltung zu platzieren und den Benefit, den Process Mining mit sich bringen kann, aufzuzeigen, sodass der Mehrwert dessen erkennbar und verständlich wird. Es sollte klargestellt werden, dass Process Mining als Hilfestellung und nicht als Kontrolle der Mitarbeitenden fungieren soll. Nur so besteht eine Chance auf den Support des Managements und das Verständnis der Mitarbeitenden. In diesem Zusammenhang spielt auch das Thema Datenschutz eine große Rolle.
Weiterhin sollte ein konkreter Ansatzpunkt für den Einsatz von Process Mining gefunden werden. Dementsprechend können nicht direkt alle Unternehmensprozesse betrachtet werden. Der Fokus sollte sich zuerst auf einen kleineren Abschnitt richten. Wichtig hierbei ist, dass man den genauen Anfang und das Ende des betrachtenden Prozessabschnitts definiert, damit man sich nicht innerhalb des Prozesses verliert. Eine weitere Hürde, die hiermit einhergeht, ist die Schaffung eines einheitlichen Prozessverständnisses sowie die Datengrundlage. Viele der am Prozess beteiligten Mitarbeitenden kennen nur Teile des Prozesses. Dies resultiert daraus, dass viele isoliert in ihren Abteilungen arbeiten. Dies bezieht sich nicht nur auf den Prozess, sondern auch auf die dazugehörigen IT-Systeme. Somit ist es teilweise schwierig nachzuvollziehen, welche Transaktionen im System welche Daten und welche Prozessschritte beeinflussen. Aus diesem Grund sollte ein einheitliches Prozessverständnis geschaffen werden. Zusätzlich ist die Datengrundlage von essenzieller Bedeutung. Ist der betrachtete Prozess nicht oder nur schlecht durch den Einsatz eines IT-Systems digitalisiert, ist der Einsatz von Process Mining nicht möglich. Somit stellt die Datengrundlage die größte Hürde dar und kann als K.-o.-Kriterium gesehen werden. Nichtsdestotrotz weisen etwaige Lücken der Daten darauf hin, welche Systemstrukturen geschaffen werden müssen, um Process Mining in der Zukunft einsetzen zu können.
Sie beschreiben eine Vielzahl an Hürden, die überwunden werden müssen, um Process Mining in ein Unternehmen einführen zu können – auch Ihr Unternehmen GEA wurde mit einigen Herausforderungen konfrontiert. Was erhoffen Sie sich nun vom Projekt BPM-I4.0 und wie gehen Sie im Projekt vor, um diese Ziele zu erreichen?
Andreas Westermann: Natürlich erhoffen wir uns durch das Projekt, dass wir mehr Transparenz über die eigenen Prozesse bekommen, auch in Bezug auf Prozessänderungen, wie auch Dr. Martin Dräxler bereits angesprochen hat. Zusätzlich wollen wir ein allgemeines Verständnis für die Abläufe im Prozess erreichen, was sich mit dem Start des Projektes als eine der Hürden herauskristallisiert hat, über die wir bereits zuvor gesprochen haben. Ein großes Problem bei uns in der Auftragsabwicklung sind interne sowie externe Änderungen, die auftreten können. Damit wir einen stabileren Prozess in dieser Hinsicht anstreben können, erhoffen wir uns in Zukunft, ermitteln zu können, was eine Änderung bedeutet und welche Auswirkungen diese mit sich bringt. Wichtig für uns ist es, Erfahrungen ableiten zu können, um mit Änderungen besser umgehen zu können und das Thema Liefertermintreue zu fokussieren. Dies ermöglicht uns, frühzeitig die Probleme zu erkennen und in den Prozess eingreifen zu können. So soll auch eine Hilfestellung für die am Prozess beteiligten Mitarbeitenden erreicht werden.
Weiterhin wollen wir im Zuge dieses Projektes auch Erfahrungen mit dem Thema Process Mining sammeln, um die Möglichkeit zu haben, es in Zukunft für weitere Prozessschritte oder auch komplette Prozesse ausbauen zu können. Wir erhoffen uns zusätzlich, durch den Einsatz von Process Mining, Input für ein globales Prozessmanagement und die Einführung von Global SAP für die GEA zu bekommen.
Damit wir diese Ziele letzten Endes erreichen können, ist natürlich etwas Zeit und Vorarbeit für die Umsetzung notwendig. Zunächst wurden diverse Workshops und Interviews mit Prozessbeteiligten geführt, um die Hürde des Prozessverständnisses zu überwinden und den Prozess ganzheitlich zu verstehen. Dies hat uns dabei geholfen zu ermitteln, wie im Prozess gearbeitet wird und welche IT-Systeme beteiligt sind. So haben wir nicht nur die operative Prozessebene kennengelernt, sondern auch die Managementebene. Mit einer ersten Dateninventur konnten wir ermitteln, aus welchen Systemen wir die Daten ziehen müssen und haben somit einen ersten Überblick über die Datengrundlage bekommen. Weiterhin haben wir uns mit dem Aufbau eines Kennzahlensystems auseinandergesetzt, welches uns dabei helfen soll, den betrachteten Prozessabschnitt messbar zu machen. Für die Zukunft werden wir uns näher mit der Datengrundlage beschäftigen und schauen, welche Process Mining-Ergebnisse wir hiermit erreichen können. Uns ist wichtig, dass wir das ursprüngliche Ziel immer im Auge behalten und den Aufwand und gewünschten Output in Relation zueinander setzen.
Herr Stübbe, Ihr Unternehmen CONTACT Software arbeitet als Praxispartner eng mit dem SICP – Software Innovation Campus Paderborn, dem Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik IEM sowie den anderen Projektpartnern zusammen. Inwiefern hilft Ihnen diese Zusammenarbeit dabei, Ihre Ziele innerhalb des Projektes zu erreichen?
Rolf Stübbe: Die Zusammenarbeit mit dem SICP hilft uns dabei, sowohl tiefergehende Informationen aus der Industrie als auch von der wissenschaftlichen Seite zu bekommen. Dies gibt uns die Möglichkeit, künstliche Intelligenz und präskriptive Techniken aus umfassenden Perspektiven besser kennenzulernen. Die Konstellation aus den unterschiedlichen Industriepartnern, dem Fraunhofer IEM und der Universität Paderborn unterstützt uns dabei, in diesen Themengebieten weiter voranzukommen. Die Durchführung eines solchen Projektes hilft uns, tiefere Erkenntnisse über die Anforderungen eines nächsten Levels des Prozessmanagements zu erlangen, um diese in unsere Produktentwicklung einfließen zu lassen. Mit unserem Projektpartner Weidmüller haben wir bereits eine intensive Kundenbeziehung. Jetzt gewinnen wir über das Tagesgeschäft hinaus die Möglichkeit, gemeinsam Technologie zu verproben und praxisgerechte Werkzeuge für den nächsten Level des Prozessmanagements zu konzipieren.
Wenn Sie über das Projektende hinausdenken, welche weiteren Schritte sind Ihrer Meinung nach erforderlich, um Process Mining auch in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) einführen zu können?
Rolf Stübbe: Damit Process Mining auch in kleinen und mittleren Unternehmen Anwendung findet, gibt es aus meiner Sicht einige wichtige Faktoren, die beachtet werden sollten. Ich glaube, dass ein wesentlicher Punkt die einfache Anwendbarkeit sein wird. Wenn ich an meine Erfahrungen aus der Beratung denke, haben große Unternehmen die Möglichkeit, sich selbst aus verschiedenen Softwareprodukten, die oft keinen hohen Reifegrad haben, Lösungen individuell zu konfigurieren. Das ist für große Unternehmen deshalb möglich, da sie meist über umfangreiche finanzielle Mittel, die notwendigen Expertinnen und Experten und die entsprechende Kapazität verfügen. Kleinen und mittleren Unternehmen fehlen solche Möglichkeiten oftmals. Deshalb ist es gerade für sie ein wichtiger Faktor, dass viele Funktionen bereits als Templates in einer Software vorhanden sind. Als Beispiel hierfür dienen bereits vordefinierte KPIs und Dashboards. Auch sollte z.B. eine KI-Unterstützung so integriert sein, dass ein überschaubarer Aufwand zur Inbetriebnahme notwendig ist. Abgesehen von einer einfachen Anwendbarkeit muss natürlich der Nutzen solch einer innovativen Lösung erkennbar und die Software bezahlbar sein. Ich bin sicher, dass wir es im Rahmen des Forschungsprojektes schaffen, den Nutzen von Process Mining zu bewerten. Damit haben wir eine valide Grundlage, um auch die KMU davon zu überzeugen.
Neben der Software- und Usability-Seite sind aus meiner Sicht auch organisatorische Themen zu berücksichtigen. So halte ich eine konzeptionelle Beratung und Unterstützung der Mitarbeitenden in der Akzeptanz einer Process Mining Software für sinnvoll. Weiterhin sollte klargestellt werden, dass persönliche Leistungsdaten nicht offengelegt werden, damit die Mitarbeitenden des Unternehmens sich nicht kontrolliert, sondern in ihrer Arbeit unterstützt fühlen, wie auch Andreas Westermann bereits erwähnt hat. Softwareeinführungen, die organisatorische Abläufe verändern, erfordern also stets eine Begleitung. Hat ein Unternehmen – wie beispielsweise Weidmüller – bereits ein gut funktionierendes Prozessmanagement auf Basis von PLM eingeführt, ist ein grundsätzliches Verständnis und Akzeptanz bereits gegeben. Process Mining im Sinne einer erweiterten PLM-Funktionalität stellt dann bezüglich der Akzeptanz aus meiner Sicht keine große Hürde mehr da.