Gestörte Lieferketten, schwankende Rohstoffpreise und steigende Nachhaltigkeitsanforderungen – die Automobilindustrie steht unter Druck. Wie kann Catena-X, das offene Datenökosystem für die Automobilindustrie, hier helfen? Im Interview erklärt Roger Faust, warum standardisierter Datenaustausch zum Gamechanger für Mittelständler werden kann.
Herr Faust, steigen wir mit einem fiktiven Szenario ein: Stellen wir uns vor, ich bin ein mittelständischer Zulieferer in der Automobilindustrie. Durch die Nachwirkungen der Coronapandemie, den Krieg in der Ukraine und die anhaltenden geopolitischen Spannungen kämpfe ich mit gestörten Lieferketten, schwankenden Rohstoffpreisen und dem Druck, nachhaltiger zu produzieren. Warum könnte Catena-X in dieser Situation die Lösung für mich sein?
Sie beschreiben sehr schön den Druck, der auf den Unternehmen im Bereich Nachhaltigkeit lastet und der zukünftig sicherlich noch zunehmen wird, da nicht nur die Kunden nachhaltiger produzieren müssen, sondern die Unternehmen auch selbst dazu gezwungen werden. Man beachte hierzu die EU-Regulierung „Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD). Mit Catena-X wird es nun möglich, den hierzu notwendigen Datenaustausch zu standardisieren und automatisieren. Jedem sollte einleuchten, dass man den Product Carbon Footprint (PCF) von Millionen von Teilen, die täglich in der Automobil-Lieferkette ausgetauscht werden, nicht mehr per Excel verwalten kann. Die Problematik wird noch durch die von Ihnen genannten labilen Lieferketten verschärft. Hier wird mehr Flexibilität für schnelle Anpassungen benötigt. Catena-X-Standards können hier helfen, individuelle Lieferantenportale stehen dem eher im Wege.
Bevor wir tiefer einsteigen: Was genau ist Catena-X, und welche Vision verfolgt es für die Automobilindustrie insgesamt?
Catena-X ist das erste offene, kollaborative und dezentral organisierte Datenökosystem der Automobilindustrie, das auf einheitlichen Standards und gemeinsamen Prinzipien basiert. Gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) wurde 2021 das Catena-X-Konsortium ins Leben gerufen. Ziel der 28 Verbundpartner aus Forschung und Industrie war es, gemeinsam ein datengetriebenes Wertschöpfungsnetzwerk für alle Akteure der deutschen und europäischen Automobilindustrie zu entwickeln. Konsortialteilnehmer waren namhafte Unternehmen wie BMW, Volkswagen, Mercedes Benz, Deutsche Telekom, Robert Bosch, Siemens und viele weitere. Aber auch kleine und mittlere Unternehmen waren mit dabei, um eine für die Automobil-Lieferkette möglichst repräsentative Struktur abzubilden und auch deren Interessen einfließen zu lassen.
Was ist aus dem Vorhaben geworden?
Das Konsortium endete im Sommer 2024. Insgesamt wurden mehr als 200 Millionen Euro investiert. Nach Abschluss des Förderprojektes wurde Catena-X in einen Verein überführt. Der Verein kümmert sich um die Weiterentwicklung des Projektes. Hier werden die Standards entwickelt und der Betrieb organisiert bzw. Partner und Lösungen zertifiziert. Die Entwicklung der Softwaremodule findet im Rahmen der Open-Soure-Initiative Tractus-X statt. Als Betreiberorganisation wurde Cofinity-X gegründet, ein Joint Venture von BASF, BMW, Henkel, Mercedes, SAP, Schaeffler, Siemens T-Systems und Volkswagen.
Wie trägt das Konzept von Catena-X dazu bei, die Bedenken von Mittelständlern gegenüber dem Datenaustausch zu verringern?
Ein wesentlicher Aspekt von Catena-X ist die Datensouveränität. Das bedeutet: Datenlieferanten behalten die Rechte an ihren Daten und stellen diese den Datennutzern nur unter speziellen Nutzungsbedingungen zur Verfügung. Sie können ganz genau festlegen, wer die Daten für wie lange und für welche Zwecke nutzen kann. Damit soll vermieden werden, dass andere, z.B. die bekannten Hyperscaler, ihre Macht nutzen, um die Daten zentral zu vermarkten und der Datenlieferant leer ausgeht. Weiterhin können die Daten so auch vor dem Missbrauch, zum Beispiel durch Konkurrenten gesichert werden.
Auf diese Weise hofft man, die Bedenken vieler Mittelständler gegen einen forcierten Datenaustausch in der Industrie zu zerstreuen und eine mächtige Alternative zu den zentralen Datenbanken der Hyperscaler aufzubauen.
Wie sind Sie und das Unternehmen Novatec mit Catena-X in Berührung gekommen und was fasziniert Sie persönlich an diesem Netzwerk?
Novatec hat einen starken Bezug zum Automobilbau, zum Beispiel in vielen Projekten bei Mercedes Benz. Da Catena-X Erstausrüster (Original Equipment Manufacturer, OEMs) und Zulieferbetriebe miteinander verbindet, ist es natürlich in unseren Fokus geraten. Die großen Unternehmen aus beiden Bereichen haben sich hier zusammengefunden und gemeinsam Standards entwickelt – da sehen wir eine solide und zukunftssichere Plattform für Digitalisierungsprojekte. Ich beschäftige mich ja schon eine ganze Weile mit der digitalen Transformation von Industrieunternehmen. Leider ging das in der Vergangenheit nur sehr schleppend voran. Viele Unternehmen tun sich schwer damit, hier eine eigene werthaltige Strategie zu entwickeln und diese dann in die Praxis umzusetzen. Oft fehlen auch Weitsicht und Expertise, um im Vorfeld zu bewerten, welche Lösungen sich im Markt durchsetzen werden, sprich welche Investitionen sich lohnen werden. Mit Catena-X haben die Großen der Branche Standards entwickelt, die allgemein anerkannt werden. Mit den OEMs als Zugpferden bin ich sicher, dass sich diese Standards durchsetzen werden. Das heißt, dass sich die Investitionen, die man hier tätigt, auch langfristig auszahlen werden.
Um bei unserem Beispiel des mittelständischen Zulieferers zu bleiben: Wie kann Catena-X dabei helfen, Lieferketten transparenter zu machen und mögliche Engpässe frühzeitig zu erkennen?
Catena-X basiert auf diversen Use Cases, die bestimmte Themen in der automobilen Lieferkette adressieren. Demand and Capacity Management ist zum Beispiel einer dieser Use-Cases. Hiermit können die Bedarfe der Kunden mit den Kapazitäten der Zulieferbetriebe standardisiert abgeglichen und so Engpässe frühzeitig erkannt werden. Für Zulieferbetriebe ergibt sich der Vorteil, dass sie mit dem Catena-X-Standard zukünftig eine Lösung für alle OEMs haben werden und nicht mehr individuelle Prozesse für jedes Lieferantenportal einführen und pflegen müssen. Wenn man das Ganze weiterdenkt, gilt das nicht nur für die Kunden der Unternehmen, sondern auch für die Kommunikation mit deren Lieferanten. Das heißt Catena-X wird wie ein Tsunami durch die Lieferkette rauschen. Damit wird der Datenaustausch auf ein komplett neues Niveau gehoben und die Prozesse nachhaltig standardisiert und automatisierbar und damit schneller und günstiger. Das wird zwar noch eine Weile dauern, sich schlussendlich aber durchsetzen.
Sie möchten tiefer ins Thema einsteigen? Dann hören sie in den Podcast „DiSerHub Connections“ rein, der im Rahmen unseres Transferprojekts DiSerHub entstanden ist.
Christopher Lüke vom Heinz Nixdorf Institut spricht in einer aktuellen Folge mit Roger Faust über Catena-X, das kollaborative und offene Datenökosystem für die Automobilindustrie.
Im Podcast beantwortet der Experte weitere Fragen wie diese:
- Welche neuen Geschäftsmodelle ergeben sich durch Catena-X?
- Wie sieht der Einstieg für KMU aus?
- Muss ich als mittelständisches Unternehmen tiefes technisches Know-how haben, um Catena-X nutzen zu können, oder gibt es einfache Möglichkeiten, sich zu integrieren?
- Wie kann Catena-X die eigene Wettbewerbsfähigkeit in Zukunft sicherstellen?
Jetzt reinhören und spannende Impulse mitnehmen: https://diserhub-connections-podcast.podigee.io/13-new-episode
Infos zum Experten: Roger Faust ist bei der Novatec Consulting - einem Unternehmen zur individuellen Software-Entwicklung - als Consultant im Bereich New Business Development tätig. Er berät Unternehmen in allen Fragen der digitalen Transformation, insbesondere in Fragen der Organisation, Mitarbeitermotivation und der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Im Bereich Catena-X berät Roger Faust Kunden bei der Identifikation des Nutzens für das eigene Unternehmen, bei der Auswahl geeigneter Use Cases, der Optimierung des internen Datenmanagements und der Nutzung des Catena-X-Ökosystems.